Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,
als mich Frau Wania-Olbrich gebeten hat, zum Holocaustgedenktag eine Rede vorzubereiten, habe ich mir lange Gedanken gemacht, was genau ich sagen möchte. Ich muss zugeben, es fiel mir schwer. Ich habe weder den Krieg noch Zeitzeugen aus der Familie miterlebt. Also entschloss ich mich, aus meiner Perspektive zu schreiben, was ich als jüdisches Mädchen fühle, wenn es um Holocaust geht.
Das ich hier stehe ist einzig und allein ein glücklicher Zufall. Wäre mein Urgroßvater nicht in der Roten Armee an der Front gewesen, gäbe es meine Familie nicht. Mein Uropa hatte noch sechs weitere Geschwister und im Allgemeinen eine sehr große Verwandtschaft – er hat als Einziger überlebt. Am heutigen Tag gedenkt man der Shoa und der unzähligen Toten. Es gibt ein jüdisches Sprichwort: wenn ein Mensch stirbt, stirbt die ganze Welt. Doch fast noch schlimmer traf es die Überlebenden. Der Krieg war gewonnen, ja, aber mit wem konnte mein Uropa diese Freude teilen? Zusammen mit seinen Liebsten sind für ihn Welten gestorben und der Sinn im Leben erloschen. Woher hatte er also die Kraft, in seine völlig zerstörte Heimat zurückzukehren mit Nichts und als Nichts, und trotzdem ein neues Leben anzufangen? Er hat niemals über den Krieg geredet, doch der Krieg ließ ihn nicht in Ruhe. Nacht für Nacht wachte er aus seinen Albträumen auf und schrie und weinte. Jeder der Überlebenden geht mit seinem Schicksal anders um. Manche können später noch Berichte schreiben, andere schämen sich für ihre Vergangenheit und werden damit nie fertig. Zu den letzteren gehörte mein Urgroßvater. Ich durfte ihn nicht kennenlernen, er ist früh verstorben. Säße er heute mit uns im Raum und man würde ihn nach seinem Leben fragen, würde er schweigen. Das wäre seine Art des Erzählens. Wahrscheinlich hätte er die Entscheidung meiner Eltern nicht verstanden, aus der Sowjetunion nach Deutschland, ins Land der Täter, auszuwandern. Doch ich bin hier geboren und das ist mein Land, ich lebe als Jüdin in Deutschland und ich will nicht, dass es wieder das Land wird, das es vor 70 Jahren einmal gewesen ist.
Neulich fragte man mich, ob wir in der Familie über den Holocaust sprechen. Ich sage Ihnen: „Ja,und dann wird es bei uns sehr emotional.“ Es beschäftigt uns immer noch und ich bin mir sicher, dass ich von diesem Thema früher etwas mitbekommen habe als viele meiner christlichen Freunde.“
Ich persönlich habe Antisemitismus weder in der Schule, noch wo anders erlebt. Im Gegenteil: Vorige Woche besuchte meine Klasse unsere jüdische Gemeinde und da hatten meine Schulkameraden viele Fragen, waren aufgeschlossen und respektvoll. Diese Offenheit hat mich berührt. Ich möchte glauben, dass heute jüdisches Leben in Deutschland selbstverständlich geworden ist. Dieser Gedanke gibt mir die zusätzliche innere Sicherheit und es macht mich stolz ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
A.M.